Der Workshop bestand aus zwei Komponenten: 1) Die TeilnehmerInnen suchten sich im Stadtraum Ehrenfeld die Werbeplakate aus, mit denen sie inhaltlich in einem Konflikt stehen. Sie rissen nur ein kleines Fragment des jeweiligen Plakates ab und brachten dieses als Trophäe zum Workshop mit. Die entstandene Bresche, d.h. Leerstelle, im Plakat wurde fotografisch dokumentiert und auf einer Google-Karte geografisch lokalisiert → https://recut.city. Für jeden Handlungsort wurde eine Webseite erstellt, wo ein Foto mit persönlicher Stellungnahme der jeweiligen TeilnehmerInnen (die TeilnehmerInnen waren zufälligerweise alle weiblich) zum Inhalt des Plakates zu sehen ist. Die Texte sind stilistisch sehr unterschiedlich: kurze emotionale Ausrufe, Gedichte oder Essays. 2) Die gesammelten Schnipsel wurden zu Bestandteilen eines neuen Plakats, das am letzten Tag des Workshops unautorisiert auf einer beliebig ausgesuchten Plakatfläche über einem bestehenden Plakat angebracht wurde. Dieses neue Plakat wirkte zwar optisch wie eine abstrakte Collage, trug aber tatsächlich eine Botschaft: jedes Fragment der Collage wurde mit einem QR-Code markiert, der auf die entsprechende Fragment-Webseite zurückverwies. So kann man online zu jedem formlosen Schnipsel des Plakates die persönlichen Statements aller TeilnehmerInnen lesen. Damit ist die Webseite nicht als eine reine Dokumentation oder ein Projektdenkmal zu betrachten, sondern als ein notwendiges Bindeglied zwischen dem hergestellten kollektiven Plakat und der kommentierten Werbung. Da beide Elemente im Stadtraum nur temporär präsent waren, bleibt die Webseite selbst als eine Art digitales Plakat bestehen. Die Website ist somit nichts anderes als ein digitales Tool, mit dem das öffentliche Kommentieren von Außenwerbung ermöglicht wird. Die Plakatbeschädigung durch den Naked City-Workshop unterscheidet sich damit vom üblichen Vandalismus, da jeder Angriff politisch artikuliert ist. So kann dieses Tool weltweit weiterverwendet werden.

 

Die Grundidee des Naked City-Projektes von Guy Debord besteht in der kritischen Auseinandersetzung mit dem linearen, autoritären Konzept von Stadt. Debord zerschnitt eine übliche Pariser Stadtkarte und erstellte aus den nach Zufallsprinzip zusammengestellten Schnipseln eine non-lineare Karte. Diese Karte schuf ein komplett neues Konzept der Fortbewegung durch die Stadt, alternative Wege, Verbindungen und  –  das Wichtigste  –  eine neue Perspektive auf den Stadtraum überhaupt. So ein non-lineares Konzept ist genau das, was für Debord die Idee von Dérive verkörperte. Dérive bedeutet keinen vorgegebenen Bestimmungsort zu haben und Routen aus rein pragmatischen Zielsetzungen zu wählen, sondern sich stattdessen ziellos durch die Stadtlandschaft treiben zu lassen; die magistralen Straßen zu vermeiden, sich nicht an prägenden Merkmalen und touristischen Sehenswürdigkeiten zu orientieren und sich dorthin zu bewegen, wo man sonst noch nie gewesen ist; keine Angst zu haben sich zu verlaufen oder Zeit zu verschwenden. Der Titel war von dem gleichnamigen Fotobuch von Weegee (Arthur Fellig), einem US-amerikanischen Fotojournalisten übernommen worden, der in den 30er bis 40er Jahren des 20. Jahrhunderts New Yorks soziale Brennpunkte fotografierte. Mit Naked City meinte er die »entblößte, enthüllte, demaskierte Stadt«. In meinem Workshop wollte ich folgende Aspekte miteinander verknüpfen: Dérive, Mapping, Collage, Werbung und Plakat. Ich erlaubte mir eine lineare Stadtkarte mit einem Werbeplakat zu vergleichen. Die Außenwerbung auf den Ehrenfelder Straßen ist zum Teil so aggressiv, dass man fast von einer flächendeckenden Plakatierung der ganzen Stadtlandschaft sprechen kann. Diese Vorstellung von einer Stadtlandschaft, die zu einer überdimensionalen Werbefläche degradiert ist, legt den Vergleich mit einer traditionellen gedruckten Karte nahe: ein Papierblatt, das die ganze Stadtlandschaft als Bild wiedergibt. Während Debord den Pariser Stadtplan unter die Schere nahm, schnitten die Workshop-TeilnehmerInnen die Ehrenfelder Werbelandschaft in Teile. Sie collagierten die Fragmente der betroffenen Werbeplakate genauso frei, wie Debord die Schnipsel des Pariser Stadtplans frei collagierte. Während Debord dadurch ein grafisches Dérive-Manifest entwarf, stellten die Workshop-TeilnehmerInnen ein Anti-Werbe-Plakat her. Während Debords Naked City-Karte eine Walking-Route anbot, gab das Naked City-Plakat ein Ad-Tracking wieder. Ähnlich wie bei Iconoclash, versuchte ich, ein kommerzielles Plakat in ein politisches Plakat umzuwandeln, das die Kommerzialisierung der Bildsprache im öffentlichen Raum durch Werbung ablehnt.

Genres:
Edition:
re:public
Location:
re:print - naked city
Künstler*innen
Andrey Ustinov
Partner:
TRANSURBAN
Status:
Gone